domingo, 26 de octubre de 2008
2. Oktober 2008 Ausweisung aus Kolumbien
Am 1. Oktober kam ich morgens mit dem Bus in Cali an, wo ich für zwölf Tage wohnen sollte, um sowohl die Arbeit des dortigen CSPP (Comite de Solidaridad con los Presos Políticos) als auch die von NOMADESC, einer sehr interessanten Menschenrechtsorganisation in der Region, kennzulernen und zu begleiten. Ein weiteres Ziel, das sich automatischen verbinden würde mit der Begleitung dieser beiden Organisationen, war es, mich aus nächster Nähe über die Situation der Zuckerplantagenarbeiter im Valle de Cauca zu informieren, die sich seit dem 15. September im Streik befanden, um eine Verbesserung ihrer äußerst prekären Arbeitssituation zu erreichen. (siehe z.B. http://de.indymedia.org/2008/09/228296.shtml)
Am selben Tag, so erfuhr ich bald von Walter, dem Leiter des CSPP in Cali, sollte eine Demonstration dieser Zuckerplantagenarbeiter und ihrer UnterstützerInnen stattfinden, der wir uns gegen 14:30 ganz am Ende des Zuges anschlossen. Sie führte nach einigen Stunden friedlichen Gehens, ins Stadtzentrum, wo vor dem Justizgebäude die Kundgebungen stattfinden sollten. Ich ging die ganze Zeit passiv am Ende des Demonstrationszuges, machte Fotos von den Protestierenden und unterhielt mich fast durchgehend mit den verschiedenen Gewerkschaftlern von SINTRAMETAL, in deren Gebäude das CSPP sein Büro hat und mit denen wir uns zusammen auf den Weg gemacht hatten. Walter war weiter vorn gegangen, und so trafen wir uns alle erst gegen 17 Uhr im Zentrum bei der Kundgebung wieder, wo wir auf dem Boden saßen, uns unterhielten und ein wenig ausruhten. Kurz nach 17:30 Uhr brachen wir auf, um noch ein Konzert zu besuchen. Wir überquerten den Platz und bogen in eine Straße ein, wo wir noch auf jemanden warten wollten, als mich bereits einige Männer in zivil ansprachen und meinen Pass forderten. Es ging alles sehr schnell, Walter konnte noch einen der Männer nach seiner Identifikation fragen, aber schon hieß es, ich müsse ihnen ins DAS (Departamento Administrativo de Seguridad – die kolumbianische Geheimpolizei) von Cali folgen. Hier durfte mich Walter noch begleiten, so dass wir uns zu fünft plus dem Fahrer in ein Taxi quetschten. Eine wilde Telefoniererei begann, Walter mit der Vizepräsidentschaft der Menschenrechtsverteidigung in Bogotá, ich mit dem Koordinator des Red de Hermandad um zu besprechen, was zu tun sei und was ich sagen solle. Beim DAS angekommen, musste Walter vor den Toren des Gebäudes bleiben, so dass ich mit den DAS-Beamten alleine blieb. Ich wurde in ein Büro geführt, wo mir die ersten Fragen gestellt wurden: Über wen ich meinen Permiso hätte, was COS-PACC mache, warum ich hier in Cali sei, warum ich an der Demonstration teilgenommen habe, wer mein Freund Walter sei und was er mache. Ich beantwortete die Fragen, vorsichtig, aber relativ ungelogen, allerdings ohne das Red de Hermandad zu erwähnen, dass ich eine Art Volontariat bei COS-PACC mache, um zu sehen, wie sie arbeiten, weil mich die Arbeit einer NGO im Menschenrechtsbereich interessiere, dass ich an diesem Tag nach Cali gekommen sei, allerdings ohne von COS-PACC geschickt worden zu sein, sondern aus persönlichem Interesse, dass ich Walter als Freund besuchen würde und auch auf der Demonstration aus eigenem Interesse war, allerdings nicht als Teilnehmerin, sondern als Beobachterin, ich hätte vorher schon in den Medien über den Streik gelesen und mich für die Situation interessiert.
Zwischendurch kam immer wieder Oscar Vasco Soto, offenbar der Vorgesetzte meines Interviewers Camilo Torres in das Büro, um Zwischenfragen zu meiner Person und COS-PACC zu stellen, ganz offenbar war er im Nebenraum dabei, im Kontakt mit dem DAS-Büro in Bogotá mehr über mich und meinen Aufenthalt in Kolumbien auszuforschen.
Dann begann Camilo Torres, die gleichen Fragen noch einmal zu stellen, diesmal aber Wort für Wort am Computer Protokoll führend. Zwischendurch telefonierte ich weiter mit Kris, dem deutschen Koordinator in der Casa in Bogotá, sowie mit Walter. Die Anwälte von NOMADESC und vom CSPP waren schon an meinem Fall dran. Irgendwann wurde ich über Telefon darüber informiert, dass meine Anwälte draußen stünden und ich darum bitten solle, mit ihnen sprechen zu dürfen. Dies wurde mir wiederholt verwehrt. Oscar Vasco weigerte sich, mir seinen Namen zu verraten, während ich mit Walter am Telefon sprach. Erst als ich aufgelegt hatte, sagte er mir, wie er hieß. Dann wollte er mir verbieten, zu telefonieren, für einige Zeit musste ich mein Handy ausschalten, durfte es dann wenig später wieder benutzen, allerdings dabei nicht aus dem Raum und aus Camilo Torres’ direkter Hörweite gehen. Sie begannen, mir Essen anzubieten, ich solle bestellen, was ich wolle, was ich zunächst ablehnte, da ich von ihnen nichts zu essen annehmen wollte und noch hoffte, bald wieder herauszukommen und dann zusammen mit Walter und den anderen compañeros erleichtert mein Abendbrot genießen zu können. Mir wurden alle zehn Fingerabdrücke genommen.
Als es später wurde und mir schwante, dass hier ein langer, mir und meiner Freiheit nicht wohlgesonnener bürokratischer Prozess im Gange war, ließ ich mir eine Arepa mit Käse bringen. Ich kam nur dazu, sie zur Hälfte zu essen, als mir (gegen 20:30 Uhr?) ausgerichtet wurde, dass ich über Nacht im DAS bleiben müsse und mir der Appetit verging. Ich musste ihnen nach draußen folgen, und ab diesem Moment wurde es gruselig für mich. An einem Tisch vor drei oder vier Männern sollte ich aus meiner Tasche die wichtigsten Dinge wie Taschentücher, eventuelle Medikamente herausholen, die ich behalten durfte. Meine Tasche so wie mein Handy (meine SIM-Karte durfte ich vorher herausnehmen) musste ich abgeben; Schnürsenkel, Gürtel und Halsketten musste ich trotz weinendem Protest ebenfalls aushändigen. Ich solle mich beruhigen und dem kolumbianischen Gesetz gehorchen. Ungläubig wurde ich in einen gemauerten kleinen Zellenkomplex auf dem Gelände geführt, in dem es vier offene Einzelzellen mit jeweils einer Matratze und einem nackten Klo gab, davor einen Vorraum mit einem Bettgestell aus Eisen ohne Matratze, einem Waschbecken und offenen Duschen. Da ich die einzige „Gefangene“ war, durfte ich mich in dem Gesamtkomplex aufhalten, musste also nicht in eine der engen dunklen Einzelzellen, sondern blieb auf einem kleinen Polster, das sie mir brachten, auf dem Eisengestell vor den Zellen, hinter einer verschlossenen Gittertür und unter dem Himmel von Cali, der nicht durch ein Dach, sondern nur durch Gitter von mir getrennt war. Ich begann, mir die Schriften von meinen VorgängerInnen an den Wänden anzusehen, ein paar religiöse Treueschwüre an Jesus auf spanisch, Zeilen in Ivrit und recht viele für mich wie chinesisch aussehende Zeichen. Wie gerne hätte ich einen Stift gehabt, um meine Wut auf deutsch auf diesen Wänden zu hinterlassen, aber der war mir wie meine anderen Sachen abgenommen worden. So kam ich (ironischerweise) bei meinem kleinen Zellenrundgang der Wandinspizierung erst zuletzt zu einem aufgehängten Plakat der Defensoría del Pueblo, das die Festgenommenen an ihre Rechte in dieser Situation erinnern sollte. Freudig über den schriftlichen Beweis auf meiner Seite fing ich an, durch die Gittertür über den Hof zu rufen, dass jemand kommen solle. Es kam leider nur der „Wärter“, Dummheit im Gesicht, ein Spatzenhirn in Uniform und mit Gewehr. Mit ihm sollte ich, nur durch die Gittertür getrennt, meine nächste Zeit in dieser Zelle verbringen. Ich sagte ihm, dass ich mit jemandem sprechen wolle, dass auf diesem Plakat schwarz auf weiß zu lesen sei, dass gerade mindestens drei meiner Rechte gebrochen würden. Ich musste sie ihm vorlesen: Das Recht zu wissen, aus welchem Grund ich festgehalten werde und wer diese Maßnahme angeordnet hat. Das Recht, nicht ohne Kommunikation zu sein (no ser incomunicado). Das Recht, unmittelbar mit meinem Anwalt sprechen zu dürfen und zwar in Ruhe (beides extra fett gedruckt auf diesem Plakat!). Ich solle mich beruhigen, riet mir der Wärter einfältig, die Nacht sei zum Ausruhen da, zum Schlafen. Genau so sähe ich das auch, weshalb ich nicht hier sein wolle! – Ratloses Grinsen. Zum Thema meiner Rechte hatte er die Erklärung, dass es in Kolumbien dafür horarios gebe, also sozusagen Geschäftsszeiten für Menschenrechte, und jetzt sei es schon zu spät, erst morgen wieder. Es half nichts, ihm zu erklären, dass es keine Geschäftszeiten für das Gelten von Rechten gebe. Er verschwand unbeeindruckt und kehrte irgendwann zurück, um mich strahlend immer wieder zu fragen, ob mir Kolumbien gefallen habe, es sei doch schön, nicht wahr, Kolumbien. Hier an diesem Ort nicht, konnte ich ihm von meiner Seite aus nur antworten, dann begann er, Deutschland zu loben, das Land der Möglichkeiten, nicht wahr, wo es allen gut gehe. Ich erklärte ihm, dass dies nicht so sei, aber er fuhr fort, erzählte von seiner Schwester in Deutschland, und blieb dabei: Deutschland ist sehr gut, da gibt es dies hier, nicht wahr? Und zeigte mir verschwörerisch das Hakenkreuz, das auf seinem Unterarm tätowiert war. Als ich verzweifelt über diesen DAS-Angestellten mit Hakenkreuz-Tatoo nur noch „fachistas“ murmeln konnte, fragte er mich ebenso grinsend, wie zuvor bei der Frage, ob mir Kolumbien gefalle, dass mir wohl die Revolution gefalle. Von welcher Revolution er bitte spreche, entgegnete ich ihm, worauf er nichts mehr antwortete und sich irgendwann wieder zurückzog.
Ich stellte mich auf eine Nacht unter freiem Himmel auf dem Polster ein, als der Wärter und Camilo Torres an die Gittertür kamen, um sie zu öffnen (!). Wieder sollte ich ihnen folgen. Zurück in das Bürogebäude. In einer Art hell erleuchtetem Hörsaal wurde ein großes Plakat mit dem Emblem des DAS in Cali aufgehängt – „Gesetzlichkeit, Ehrlichkeit“, und ein drittes hehres Wort, das ich vergessen habe. Vor diesem Plakat wurde ich nun fotografiert, mehrmals frontal (sie haben jetzt meinen bösesten Blick in ihrem Archiv) und von beiden Seiten im Profil.
Ich wurde wieder heruntergeführt zu den Büros, wo mir das gleiche kurze Polster, das sie mir schon in der Zelle gegeben hatten, vor die Archiv-Tür auf den Boden gelegt wurde. Der schleimige Oscar Vasco, der gleichzeitig mit seinem jefe telefonierte, reichte mir eilig mein Handy, ich solle es anschalten, ich würde gleich angerufen. Kurz darauf telefonierte ich mit Alejandro, der sich mir als meinen Anwalt vorstellte, und mir erklärte, dass er die ganze Zeit im Kontakt mit der DAS-Direktorin in Bogotá sei, dass diese die Bestimmungen aber ignoriere, er könne erst am nächsten Tag um 8 Uhr zu mir, und meine Teilnahme als Ausländerin ohne entsprechendes Visum sei für sie Grund, mich auszuweisen. Sicher also, dass sie mich ausweisen würden?! Ich blieb geschockt und wieder einmal weinend in dem Büroflur, nahm noch ein Telefongespräch mit Kris und Ariadni, meiner lieben griechischen compañera in Bogotá, entgegen. Es wurde mir eine Tüte von Walter übergeben, mit Zahnbürste und Zahnpasta, Joghurt, Saft, Wasser, Keksen, Taschentüchern und einem aufmunternden Zettelchen. Ich war gerührt. Und traurig.
Eine Frau im anschließenden Büroraum war als „Wächterin“ für mich zuständig, die anderen gingen, und ich richtete mich in meinen durchgeschwitzten Klamotten auf dem Polster ohne Laken oder Decke ein, wo ich die ersten Nachtstunden schlaflos lag und fieberhaft über meine Situation nachdachte. Gegen sechs kamen die ersten fleißigen DAS-Mitarbeiter zurück ins Büro, mir wurde Tinto kredenzt und eine Arepa mit Käse angeboten – die möge ich doch so –, die ich diesmal ausschlagen konnte, um mich lieber an Walters Kekse zu halten. Das Warten auf meinen Anwalt Alejandro begann, wieder in dem Hörsaal, bewacht von Camilo Torres und einer Frau, die mich später bis zum Flugzeug in Bogotá begleiten sollte, deren Namen ich aber nicht kenne. Alejandro kam, ließ sich in der Gesellschaft der DAS-Funktionäre von mir berichten, was bisher passiert sei, wie sie mich behandelt hätten. Er teilte mir mit, dass sie noch dabei seien, die Ausweisung anzufechten. Berichtete mir, dass jetzt auch im El Tiempo der Streik der Zuckerplantagenarbeiter als gerechtfertigt anerkannt worden sei, und außerdem dass einem der Plantagenbesitzer Beziehungen zu den Paramilitärs nachgewiesen worden seien. Desweiteren, dass ein achtjähriges Mädchen auf der Demonstration „verschwunden“ sei. Er wiederholte schon wie nachts zuvor am Telefon, dass ich nicht traurig sein solle, dass sie, die KolumbianerInnen, weiterkämpfen würden. Dann ging er, und nur wenige Minuten später wurde mir in dem Büro, in dem mein Verhör stattgefunden hatte, meine Ausweisungserklärung zum Unterschreiben vorgelegt.
Señor Vasco hatte es sehr eilig. Ohne mir zu sagen, wohin es gehen sollte, sollte ich in ein Auto steigen. Ich bestand auf einer Erklärung, bevor ich einsteigen würde. Als es hieß, dass der Flughafen das Ziel sei, um mich nach Bogotá zu fliegen, konnte ich mich noch gerade so entrüsten, dass meine ganzen Sachen noch bei Walter seien. Stutzen. Ich rief Walter an, dass er mir bitte meinen Rucksack schnell zum Flughafen bringen solle. Dann ging’s los, Torres am Steuer, Vasco als Beifahrer und die Frau neben mir auf der Rückbank. Die drei unterhielten sich auf der Fahrt über Nebensächlichkeiten, über beginnende Glatzen bei den männlichen Passagieren im Wagen, und ich hasste sie dafür. Auf dem Flughafen in Palmira weiteres Warten im Büro des DAS. Einer der Männer dort erdreistete sich, mir zu sagen, welch schöne Augen ich hätte, und mich die ganze Zeit anzulächeln. Warten auf Walter mit meinem Rucksack (ich durfte weder Walter noch meinen Rucksack sehen; meine DAS-Begleiter checkten den Rucksack sofort nach Bogotá ein). Noch ein paar Telefongespräche mit Kris, Chello, Walter.
Camilo Torres und die erwähnte Frau begleiteten mich im Flug nach Bogotá, Oscar Vasco fuhr zurück nach Cali.
In Bogotá angekommen wurde ich nach einigem Hin und Her und telefonischem Einschalten eines Beamten der deutschen Botschaft doch noch zu Kris und den anderen durchgelassen, die mit allen meinen Sachen, die noch in der Casa in Bogotá waren und von Ariadni für mich in all der Eile eingepackt worden waren, im DAS-Büro auf mich warteten. Alles ging schnell, ich packte eilig alle meine Sachen um, verteilte sie auf Gepäck und Handgepäck, während die anderen, u.a. der Anwalt Jorge Molano, den ich auf der Begleitreise in den Sur de Bolívar bereits kennenlernen durfte, die restlichen Dinge klärten, von denen ich nicht mehr viel mitbekam. Mein Flugticket, das ich für den 14. Oktober nach Lima gekauft hatte, um von Peru aus noch einmal ein Visa de Cooperante für Kolumbien zu beantragen, wurde für sofort umgebucht, ganz plötzlich musste ich los, konnte noch zwei Erklärungen für das Red de Hermandad unterschreiben und alle umarmen (ich hoffe, sie haben meine Dankbarkeit für alles spüren können), und wenige Minuten später saß ich allein im Flugzeug. Beim Start sah ich ein letztes Mal die Hochhäuser der Septima und konnte noch einmal die Weite der Ciudad Bolívar aus der alles relativierenden Höhe bestaunen.
Neunzehneinhalb Stunden hat der kolumbianische Staat gebraucht, um mich nach 31 Tagen Aufenthalt für mindestens sieben Jahre aus dem Land zu schaffen.
Ich danke allen compañeras und compañeros des Red de Hermandad, die sich so für mich eingesetzt haben, die ich kennen lernen durfte, für ihre Hilfe, Unterstützung und Solidarität in diesen Stunden und wünsche ihnen aus ganzem Herzen Kraft und Mut in dem Kampf um ihre Rechte in einem Staat, der diese Rechte nicht schützt, sondern im Gegensatz missachtet und verletzt!
lunes, 22 de septiembre de 2008
17. bis 22. September Sur de Bolívar
Unsere Gummistiefel am Ende der Reise
Die Reise in den Süden des Departamento Bolívar war eine der vermutlich abenteuerlichsten Reisen, die ich bisher in meinem Leben gemacht habe. Der Anlass war eine zweitägige Versammlung der Minenarbeiter in diesem vor allem von der Goldgewinnung aus kleinen Minen und Landwirtschaft geprägten Abschnitt Kolumbiens. Der „Sur de Bolívar“ ist von einer bis zu 2300 m hohen Bergkette geprägt und ist eine niedrig besiedelte, schlecht zugängliche Region. Davon, dass hier das von der Menschheit so heiß begehrte Metall Gold abgebaut wird, merkt man dem Lebensstil der BewohnerInnen der kleinen Minendörfer nicht viel an. Es fehlt an Infrastruktur, medizinischer Versorgung und Bildung. Das große Goldvorkommen wird bisher von kleinen selbstständigen Minenarbeitern abgebaut, die von dem Wert des verkauften Goldes leben.
"La Teta" (die Titte) Symbol des Sur de Bolívar, wird mit Stolz gezeigt, sobald sie sichtbar ist. "pornografia geografica"...
Seitdem Ende der 90er Jahre die internationalen Goldminenbau-Unternehmen Conquistador Mines und Anglo-American in die Gegend einzogen, wurden tausende der dort lebenden Menschen von Paramilitärs ermordet oder vertrieben. Heute ist die Existenz der mineros von dem Goldminen-Riesen Kedahda (ein Tochterunternehmen von des schon berüchtigten multinationalen Konzerns Anglo Gold Ashanti), bedroht, der bereits Konzessionen in dem Gebiet erworben hat und seine unterirdischen Naturschätze im ganz großen Stil ausbeuten will. Die Gewinne dieses Abbaus würden allerdings nicht in kolumbianische Taschen, und schon gar nicht in die der breiten Bevölkerung fließen. Lediglich fünf Prozent des Gewinns soll dem kolumbianischen Staat oder besser den Oligarchen, die dieses Land regieren, gezahlt werden, worin schon die „Entschädigung“ für die enormen anzunehmenden Umweltschäden mit eingeschlossen sind. Der grosse Rest flösse direkt ins Ausland. Für die Minenarbeiter und ihre Familien bedeutet dies den drohenden Verlust ihrer Lebensgrundlage sowie die Zerstörung ihres Lebensraumes. Bisher konnten sie sich gegen diese Pläne wehren, indem sie sich in der Federation der Agro- und BergbauarbeiterInnen des Südens von Bolívar – FEDEAGROMISBOL organisieren. Gemeinsam und in nationaler wie internationaler Vernetzung leisten sie Widerstand gegen die Freigabepläne der kolumbianischen Regierung an multinationale Unternehmen, bauen in mühsamer Arbeit die Muliwege zu ihren Dörfern zu motorisiert befahrbaren Wegen aus, gründen und unterhalten eine Schule – kurz kämpfen „por una vida digna y la permanencia en el territorio“ (für ein würdevolles Leben und ein Weiterbestehen in ihrem Territorium).
Diese Organisation ist von staatlicher Repression nicht verschont. „lideres sociales“ – Führungspersönlichkeiten der Organisationen der Region werden von Soldaten der kolumbianischen Armee außergerichtlich erschossen, wie zum Beispiel Alejandro Uribe Chacon am 19. September 2006, also genau vor zwei Jahren. Zum Anlass seines zweiten Todestages wurde die Versammlung der mineros in San Pedro Frio abgehalten, die Ziel unserer Reise war. Der Mord an Alejandro Uribe löste vor zwei Jahren einen mehrtägigen Aufstand von 1300 mineros in der nächst gelegenen Stadt Santa Rosa aus, infolgedessen es zu einem Abkommen zwischen ihnen und der Regierung kam, nach dem dieser Fall juristisch aufgeklärt werden sollte. Dies ist bisher innerhalb von zwei Jahren nicht geschehen, die Täter bleiben unbestraft, und das gleiche Batallon, das Alejandro vor zwei Jahren erschoss, ist noch jetzt im Sur de Bolívar stationiert. Dies stellt eines von unzähligen Beispielen für die dem kolumbianischen Konflikt typischen impunidad dar – der Straflosigkeit der TäterInnen.
Andere wichtige Persönlichkeiten der Federation mussten aus Sicherheitsgründen die Region verlassen, wie Teo und Gabo, die wir als Teil mehrerer internationaler und nationaler BegleiterInnen nun auf dem Weg zu der Versammlung von FEDEAGROMISBOL begleiten, nachdem sie aufgrund der für sie bestehenden Gefahr mehr als ein Jahr dieses Gebiet nicht mehr besuchen konnten.
Mittwochabend (17. September) begann unsere recht lange Anreise in Bogotá. Elf Stunden über Nacht fuhren wir bis Aguachica, von dort weiter mit dem Taxi nach Gamarra, einem schönen, kleinen und schon sehr heißen Ort am Rio Magdalena. Von dort geht es etwa eineinhalb Stunden weiter auf einem Schnellboot den Fluss aufwärts bis Santa Rosa, wo wir die Nacht auf Freitag in einem kleinen bescheidenen Hotel und in schon beträchtlicher Hitze verbringen.
Ort am Rio Magdalena
In unserem Hotel in Santa Rosa
Am nächsten Tag geht es weiter in starken Geländewagen den Berg hinauf. Unser Ziel ist das kleine Goldminendorf San Pedro Frio (wie der Name schon vermuten lässt, raus aus der Hitze), wo Freitag und Samstag das Asamblea stattfinden soll. Vor einem Jahr reichte der befahrbare Weg nur bis vier Fußstunden vor San Pedro Frio. Jetzt bleibt uns nur noch eine Stunde zu laufen. Ohne Gummistiefel ist hier kaum etwas zu erreichen, der Weg ist vom vielen Regen aufgeweicht, so dass wir in knöcheltiefem Schlamm den Berg hochstraucheln. Ich schalte auf konzentrierten Durchhaltemodus, kann kaum die atemberaubende Wildnis rechts und links von mir wahrnehmen, sondern prüfe nur die Tiefe des Schlammes unter meinem nächsten Fußtritt.
am Wegesrand
Durchgeschwitzt und dreckig erreichen wir San Pedro Frio, ein für mich völlig unwahrscheinlicher Ort nahe einer der Goldminen, über und in den Wolken, wo die Menschen nach meinen Vorstellungen in großer Armut leben. Die Häuser sind komplett aus Holzbrettern, Plastikplanen und Wellblech gezimmert. Toilettenspülung und Dusche funktionieren mit kleinen Plastikeimern, mit denen man das Quellwasser über die Kloschüssel oder dein eigenen Körper schöpft. Gekocht wird auf Holzfeuer. Es ist ein Ort der Gummistiefel, alle BewohnerInnen von klein bis groß stapfen damit durch den allgegenwärtigen rötlichen Schlamm, den sie kaum noch zu bemerken scheinen.
San Pedro Frio
San Pedro Frio. Seltene Momente im Sonnenschein
Goldmine bei San Pedro Frio
Zwei Jungs vorm Fenster
Auf dem kleinen „Dorfplatz“ wird ein Regendach aus Plastikplanen gebaut, worunter die zweitägige Versammlung stattfindet.
überdachter "Dorfplatz" von San Pedro Frio
Der Platz ist gesäumt von erstaunlich bunt ausgestatteten kleinen Läden, wo alles Mögliche von Gummistiefel bis sogar frischen Früchten verkauft wird. Ein Glück für mich, denn sonst müsste ich zum Frühstück, Mittag- und Abendessen Reis mit Kartoffel und Yucca essen – das Fleisch, was zu dem hier üblichen Mahl dazu gehört, verschenke ich aus Gewohnheit (eigentlich moralisch nicht unbedingt nötig - ich sehe hier nur glücklich, frei grasende Tiere) an fleischhungrigere compañeros.
Die "Volksküche" in der die vielen Gäste der Versammlung morgens, mittags und abends mit Fleisch, Reis und Yuca bekocht werden. Es kann einem passieren, dass man mit dem heissen Teller in der Hand im Schlamm davor steckenbleibt. - Die umstehenden Leute halfen mir, in dem sie an meinem Hosenbein zerrten, den Fuss wieder freizubekommen... :)Kinder, Hunde und Mulis prägen das Dorfbild. Mulis stellen hier das wichtigste Transportmittel dar. Schwerbeladen ermöglichen sie sowohl die bunte Warenfülle in den kleinen Läden von San Pedro Frio, als auch den Abstieg von schwangeren Frauen, die auf ihren Rücken etwa fünfzehn Tage vor der erwarteten Niederkunft ins nächste Dorf mit medizinischer Versorgung reisen müssen.
"Getränkemuli" auf dem Weg nach San Pedro Frio
Zwei Tage und zwei Nächte verbringen wir hier. Ich bin sprachlos und beeindruckt. Könnte mir ein Leben an diesem Ort niemals vorstellen. Es erscheint mir absurd, dass sich Menschen unter diesen gegebenen unwirtlichen Bedingungen ihr Zuhause einrichten. Aber genau das tun sie, und zwar mit respekteinflößender Entschlossenheit, genau um diesen Lebensraum zu kämpfen.
Asamblea FEDEAGROMISBOL
Asamblea von FEDEAGROMISBOL
Gedenkreden für den ermordeten Alejandro Uribe Chacon. Chor: "Alejandro? - Presente! Presente! Presente! Hasta cuando? Hasta siempre! Hasta siempre! Hasta siempre!"
Ich wohne den verschiedenen Reden und Gesprächen der Versammlung bei, verstehe aber noch nicht viel. Bemerke nur verdrossen, dass die Teilnahme von Frauen an den Diskussionen quasi nicht vorhanden ist. Der für Kolumbien typische machismo ist hier unübersehbar. Die Frauen sitzen dabei, mit ihren Kindern auf dem Schoß, oder bleiben in den Häusern und Küchen, um die Familien und die zahlreichen Versammlungsgäste zu versorgen... Neben Matsch, grauem Himmel, kühlem Klima und der Gesellschaft von Kakerlaken ist dies ein weiterer Grund für mich, diesen Ort einfach nicht wirklich sympathisch finden zu können. – Was meinem Staunen dennoch keinen Abbruch tut. Daisy backt im Halbdunkel die von mir sehr geliebten Arepas (süssliche Fladen aus verschiedenen Getreide)
Unermüdliche Köchin in der Gästeküche
Hier zur unglaublichen Dokumentation: eine Kolumbianerin (costeña - von der Küste), die fast so gross ist wie ich!
Einige sehr wenige schaffen es auch OHNE Gummistiefel in San Pedro Frio. Weiss nicht, wie...
Sonntag früh halb sechs bricht unsere Gruppe wieder auf. Der Schlamm ist noch tiefer, es hat in der Nacht viel geregnet. Die Autofahrt zurück nach Santa Rosa ist ein einziges Abenteuer, wir überleben es glücklich dank einem sehr virtuosen Wagenlenker und einem schier unkaputtbaren Geländewagen (jetzt weiss ich, wofür diese Autos gut sind! Bestimmt nicht für den Kottbusser Damm!!). Noch am selben Abend können wir den Nachtbus nach Bogotá nehmen, wo wir am Montagmorgen kurz vor sieben Uhr - natürlich im Regen - müde aber zufrieden und ohne schlimmere Zwischenfälle ankommen.
Rio Magdalena - früher Sonntagabend
lunes, 15 de septiembre de 2008
Mission in Boyaca 9. bis 14. September
Die Reise geht in das Departamento von Boyocá (nordöstlich von Bogotá gelegen), genauer in den östlich gelegenen Unterabschnitt, die Provincia La Libertad, wo wir drei Dörfer besuchen wollen: Labranzagrande, Pisba und Paya:
(durch Klicken lässt sich die Karte vergrößern, so dass die drei vereinzelten Dörfer ganz im Osten des Departamento erkennbar werden)
Die Provincia de La Libertad weist einen großen Reichtum des Ökosystems auf, ein atemberaubend schönes Naturszenario aus Bergen und Tälern in allen möglichen Grüntönen mit vielen Flüssen.
Derzeit werden Ölexplorationen in der Gegend durchgeführt...
Darüber hinaus ist sie von jeher ein strategisch wichtiger Landesabschnitt, da sie unvermeidlich auf dem Weg zwischen dem weiten Flachland, der den gesamten Osten Kolumbiens ausmacht, und dem Landesinneren liegt. So ist sie im 20. Jahrhundert auch zu einem wichtigen Wirkungsraum der beiden Guerrilla-Gruppen FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) und ELN (Nationale Befreiungsarmee) geworden, die sich irgendwo in den unzugänglichen Bergen der Provinz aufhalten.
Die BewohnerInnen der Provincia de La Libertad sind vor allem Bauern und Bäuerinnen, die kleine Kultivationen von u.a. Mais, Plátano, Bohnen und ein bisschen Kaffee bewirtschaften, aber vor allem von Rinderhaltung leben. Ihr Lebensraum ist von völliger Vernachlässigung des Staates geprägt, zumindest was die sozialen Strukturen betrifft: es herrscht Armut, Mangel an medizinischer Versorgung, Schulbildung und Infrastruktur.
Bauernhaus am Weg nach Labranzagrande
Anstatt den Jahrzehnte und länger alten bewaffneten Konflikt in Kolumbien, der in einer absurd ungleichen Verteilung von Reichtum, (Land-)Besitz und Macht wurzelt, durch Investitionen im sozialen Sektor zu bekämpfen, besteht der einzige Einsatz von staatlicher Seite in der Provinz wieder nur durch eine enorme Infiltrierung durch Armee und Polizei.
Polizist in Pisba (Foto Ariadni)
Somit ist das Setting der Lebenssituation der Menschen in dieser Region grob skizziert. Sie leben mitten zwischen den legalen und den illegalen bewaffneten Streitkräften dieses Landes und sind unmittelbare Opfer des Konfliktes.
Unsere Mission ist seit Jahren die erste Investigation der Situation der Menschenrechte in der Provinz. Unsere Ziele sind einerseits die humanitäre Situation, in der sich ihre BewohnerInnen befinden, in Form von Interviews zu dokumentieren und auszuwerten. Andererseits soll versucht werden, zusammen mit den EinwohnerInnen und den Autoritäten der Gemeinden ein Weg zur Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen NGO’s zur Verteidigung von Menschenrechten in der Region zu finden.
Mittwoch: 13 Uhr treffen am Busbahnhof Bogotá. Mit einem der luxeriösen Busse, die hier das Land durchqueren, in denen selbst ich die Beine ausstrecken kann, in denen man allerdings leicht erfriert aufgrund einer übertriebenen Klimanlage nach Sogamoso. Von der zweitgrößten Stadt des Departamento Boyacá mit 120 000 EinwohnerInnen, ehemals wichtiges religiöses Zentrum der Muisca-Indigenas, die hier einen Sonnentempel erbaut hatten, bekommen wir nicht viel zu sehen, da es bereits dunkel ist bei unserer Ankunft. Die Kälte drängt sich als stärkster Eindruck auf. Wir gehen essen, wir drei vom Red begleiten noch Fabian (Direktor von COSPACC) auf eine kleine Reunión, von der ich nicht viel verstehe, danach noch ein Bierchen in der einzigen Bar, die noch offen hat um diese späte Uhrzeit (etwa 23 Uhr), und dann eintauchen in den kurzen Nachtschlaf in einem kleinen Hotel. 4:45 Uhr klingelt der Wecker, halb sechs versammelt sich die Gruppe, um den Bus nach Labranzagrande zu nehmen. Kein Frühstück, aber der in Kolumbien unvermeidliche "Tinto" - sehr wässriger, schwarzer Kaffee mit viel Zucker, aber wenigstens schön heiß, hilft uns weiter.